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Witze auf Kosten von Menschen mit Behinderung- findet Ihr das okay? wann ist etwas witzig?

Verfasst: 9. Dezember 2018, 03:23
von Tina Tessy
Hallo, ich war heute im Saltonatale. Das Duo Collin Brothers haben die „Clowns“ gespielt. Was mich mächtig gestört hat, dass der eine so tat als wäre er behindert. (Sorry für meine Ausdrucksweise, aber genau so hat er es getan). Es war seine Haltung, seine Mimik, seine Spasmen und Sprache.
Ich fand das nicht lustig.
Als Kind erzählte ich „Mongo Billy“ Witze, was mir nun sehr leid tut.
Ein Comiczeichner Phil Hubbe finde ich dagegen amüsant, da er selbst MS hat und darüber humorvoll zeichnet. Und einen Behindertenkalender herausgibt für einen guten Zweck.
Auf welche Kosten amüsieren wir uns? Ab wann ist es nicht mehr okay? Oder rege ich mich umsonst über dies Duo auf?
Mich würde eure Meinung brennend interessieren.

Re: Witze auf Kosten behinderter Menschen

Verfasst: 9. Dezember 2018, 17:02
von CorinaTobler
Liebe Tina

Ich kann dich verstehen und teile deine Meinung.

Für mich ist es nicht nachvollziebar. Denn die wissen oft gar nicht was es bedeutet behindert zu sein oder Einschränkungen zu haben. Ausser sie sind inder Familie damit konfrontiert, was wir nicht wissen. Aber sicherlich sind nicht alle damit konfrontiert.

Es ist nicht selbstverständlich das man gesund ist und viele Menschen schätzen die Gesundheit zu wenug.
Das erfahre ich tagtäglich auf der Arbeit als Physiotherapeutin. Man macht sich erst Gedanken, wenn etwas nicht mehr funktioniert. Aber schätzt es nicht, wenn alles funktioniert und man am morgen ohne Probleme aufstellen kann.
Das macht mich oft auch etwas nachdenklich.

Ich verstehe nicht wie man Witze über eine Behinderung machen kann und sich die Leute auch noch darüber amüsieren.
Ausser wie du schreibst bei Phil Hubbe sber da geht es ja dann un Selbstironie.

Liebe Grüsse
Corina

Witze auf Kosten von Menschen mit Behinderung- findet Ihr das okay? wann ist etwas witzig?

Verfasst: 9. Dezember 2018, 20:56
von Beatrice
Liebe Tina

Auch ich bin voll und ganz bei Dir. Ich finde es einfach nicht lustig und ganz ehrlich, ich wünsche es jedem an den Hals, der sich über eine Form von Menschen mit Behinderung lustig macht. Und wenn es nur für ein paar Stunden wär. Etwas persönlichen Einblick zu erhalten, täte vielen gut.
Ich hatte an Pfingsten 2015 eine üble Erfahrung im Zug bei Genf mit einem dunkelhäutigen jungen verdorbenen Mann, der sich unsittlich benommen hat, da er mich so einschätze, als sei ich dumm und behindert, und er könne das ungestraft bei mir machen.
Ich aber ging danach zum Kondukteur, klagte über das, was der Typ mir angetan hatte (Später zeigte ich ihn auch an, aber wie bei jedem Schockerlebnis verlor ich nach diesem Ereignis die Sprache, bzw. die flüssige Sprache). Der Typ log alles ab und er beschimpfte mich vor allen Leuten als Mongolien und mit anderen klar diskriminierenden Bezeichnungen für behindert. Hätte ich nur einmal den Fehler gemacht, ihn "Neger" zu nennen, hätte er mich deswegen verklagen können.
Behinderungsmerkmale werden aber heute wie Schimpfwörter benutzt, von jung und älter, ungestraft.
Und das finde ich, müsste man endlich politisch angehen. Der "Neger" ist heute rassistisch, weil dunkelhäutige nichts für Ihre Hautfarbe können - können wir oder unsere Kinder etwas für ihre Behinderung? Nein!!!
Trotzdem dürfen schon Schüler über die Spastis, Mongis und Behindis spotten oder Grosse Komiker, etwas verdeckt aber doch offensichtlich Witze machen oder sogar Leute in einer solchen Show unterhalten.
Ich kann Dein Entsetzen verstehen, die Empörung und die negativen Gefühle auch.

Ich habe in einer Zeit, wo ich wieder nicht richtig sprechen konnte nach einem Schockerlebnis, ein Gedicht verfasst, das über meine Seelenlage in so einer Situation erzählt, aber vielleicht in ähnlicher Form auch für Dich/Euch als Eltern passt.

Lachnummer
¦¦¦¦¦¦¦¦¦¦¦

Ein Abend im April.
Sie holten mich aus meinem Zimmer
und forderten mich heiter auf, ins Wohnzimmer zu kommen,
wo eine lustige Sendung ausgestrahlt würde.
"Du sollst wieder mal zum Lachen kommen.
Bist viel zu ernst in letzter Zeit!"
Ich gehe mit, denke, es ist etwas wie Versteckte Kamera.

Weit gefehlt. Sie spielen Sketche - eher geschmacklos, finde ich.
Dann eine Werbepause, bevor der angekündigte Leckerbissen
der Show seinen Auftritt gibt.

Er wird als Star der Komik-Schau bezeichnet,
er redet langsam und stottert,
seine Hände bewegen sich immer in der Nähe seines Halses,
als könnten sie den verklemmten Worten Nachhilfe leisten.
Er ist noch jung und er wirkt sogar im Sitzen fahrig und tollpatschig
und bei jedem einigermassen fliessenden Satz,
der ihm gelingt,
tritt stolzer Glanz in seine Augen.

Alle vor dem Fernseher wiehern vor Lachen,
nur ich allein bin den Tränen der Verzweiflung nahe.
Der junge Mann, der da so überzeugend den Deppen spielt,
erscheint mir wie mein eigenes Spiegelbild
- ich sehe, wie ich selbst auf andere Menschen wirke,
bin genau wie er eine Lachnummer geworden
mit meinem Sprachproblem.

Aber bei mir ist es echt.
Ich kann nicht einfach mit Stottern aufhören
und mich als normal zu erkennen geben,
wenn es mir zuviel wird,
das spöttische Gelächter, die Ungeduld
und die abschätzig verdrehten Augen zu ertragen,
denen ich fast täglich ausgesetzt bin.

All meine Anstrengungen um fliessende Sätze
finden in Misserfolgen ihr Ende.

Ich verlasse das Wohnzimmer und weine lange im Zimmer.
Sie fragen durch die Tür: "Was ist?"
Ich schweige!
Es ist das Einzige,
was wirklich schützt
vor immer neuen Verletzungen

Bea Pfister, Juni 1999

Ich vertrage es aber auch nicht, wenn über andere gelacht wird. Als ich das Folgende erlebte, war ich noch jung und konnte eben auch nicht richtig reden. Heute würde ich mich empört vor diesen Spötter stellen und ihm sagen, was ich damals nur gedacht habe:

Der Mann mit dem Spezial-Fahrrad
*****************************************
Er fuhr daher, nahe am Gleis 10 des Bahnhofs Chur,
auf einem Fahrrad mit ungewöhnlichem Lenker
und grossen Stützrädern,
langsam, doch keineswegs unsicher - ein junger Mann,
vernünftig ausgerüstet mit Helm, Velotricot und Handschuhen.

Erst als er vom Rad stieg und ihm jemand zu Hilfe eilte,
bemerkten ich und weitere Anwesende seine Behinderung.
Er hatte deutliche Mühe zu sprechen
und sein steifer, unsicherer Gang
liessen auf Spastik oder Cerebrale Lähmung schliessen.

Er stieg in den Zug und liess sein Rad beim Gepäckwagen stehen.
Die abschätzige Bemerkung
eines vom Alter her gewiss schon "reiferen" Zeitgenossen (um die 60-70 Jahre)
konnte der junge Mann zum Glück nicht mehr hören:
"Wozue trogt denn der no anen Helm? Der is jo scho deppert!"
Ich halte sie nur fest um zu verdeutlichen, wie bösartig und
verletzend manche über behinderte Menschen reden
und während mich selbst dieser als Witz erzählte Hohn sehr verletzt,
quittierten ihn seine Begleiterinnen und Begleiter cirka gleichen Alters doch tatsächlich mit Erheiterung und Klatschen…

Noch immer stand das Fahrrad unweit von mir auf dem Perron,
ein älterer Mann kam, es näher anzuschauen,
seine Frau stand etwas entfernt und schüttelte den Kopf.
Als ich mich zu dem Fahrrad begab,
liess der biertrinkende "Witzbold" auch über mich seine abfälligen Kommentare von der Stange: "A geh, schaut da kommt no sei Braut -lauter Krüppel gibt's do in der Schweiz!"
Und ich denke mir, lieber im Körperlichen beeinträchtigt, als so eine charakterliche Null wie der sein.

Und dann stand ich bei dem Spezial-Fahrrad und hoffte,
von seinem Besitzer nicht als Gafferin missverstanden zu werden.

Was für alle Anwesenden wohl ungewohnt war,
einen körperlich behinderten Menschen auf dem Fahrrad zu sehen,
was manche erschreckte oder peinlich berührte,
war für mich wie ein gesetztes Hoffnungszeichen.

Ich betrachtete das Rad staunend, fasziniert
und freundlich wie einen Freund.

Wenn sich einst mein Horizont verdunkelt
durch fortschreitende Gehbehinderung
wird dieses Fahrrad mein Silberstreifen sein….

Bea Pfister, Chur, September 1999

AW: Witze auf Kosten behinderter Menschen

Verfasst: 10. Dezember 2018, 00:46
von Tina Tessy
Wow Bea, deine Texte sind wunderschön geschrieben. Ich habe wirklich mitgefühlt. Auch wenn es schreckliche Erlebnisse waren, hast du was schönes kostbares daraus erschaffen.
Mir gefällt besonders die Wendung des zweiten Gedichtes, das Fahrrad als Silberstreif am Horizont. So unerwartet kommt so eine Hoffnung hervor. Einfach beeindruckt.
Danke fürs Teilen.

Ich bin eine halbe Ausländerin und bin in einem absoluten schweizer Dorf aufgewachsen. Wie abschätzend Erwachsene mich behandelt haben, hat mein Herz umso grösser gemacht für alle Minderheiten.
Ausgelacht zu werden ist nicht lustig und sich über Menschen lustig zu machen ist einfach falsch.

Re: Witze auf Kosten behinderter Menschen

Verfasst: 10. Dezember 2018, 07:54
von CorinaTobler
Liebe Bea

Vielen herzlichen Dank fürs Teilen! Dir ist schon einiges wiederfahren.

Bis jetzt hatten wir noch keine verbale Erfahrungen mit Alina.

Alina wird lediglich beim Einkaufen beobachtet.
Wenn sie im Einkaufswagen sitzt und ihre Ataxie offensichtlich ist.
Sie war mal müde, als wir einkaufen waren und somit ihre Ataxie schlimmer. Sie wackelte dadurch sehr stark mit dem Kopf und war allgemein unruhig.

Der Blick der Kassiererin schrieb Bände.
Da wir zu diesem Zeitpunkt erst kurz zuvor mit der Diagnose konfrontiert wurden. Reichte mir dieser Moment des speziellen, komischen, abschätzigen Blickes völlig aus...

Luebe Grüsse
Corina

Re:Witze auf Kosten behinderter Menschen

Verfasst: 10. Dezember 2018, 14:46
von Beatrice
Hoi Ihr beiden

Danke für Eure Anerkennung meiner Gedicht-Ergüsse. Das ist halt meine Art, so manches zu verarbeiten.
Tina, in der Kindheit machen wir alle so Sachen, die wir später bereuen, manchmal sind wir einfach auch Mitläufer. Sogar ich, die es ja an sich gekannt hat, das Behindertsein und das Ausgelachtwerden, bin einmal mitgegangen, als meine Freundin "das Rösli" (das war, wie ich heute weiss, eine ältere geistig behinderte Frau) anschauen gehen wollte. Man konnte sie beobachten, da sie viel in ihrem Garten war. Sie hatte eine spezielle Gangart (später lernten wir im Turnunterricht, dass man dem Hopsenhüpfen sage) und das fanden wir so lustig. Wir dachten glaub beide, sie macht das extra so. Rösli hat von unserem Lachen damals nichts mitbekommen. Aber später, als wir mitbekamen, wie Buben das Rösli auf der Strasse verfolgten (sie ging immer Milch in einem Kesseli holen) und ihr einen Ball immer an den Po kickten, sodasss sie ihre Milch verschüttete, da waren wir beide die ersten, die zu Rösli hinrannten, die Buben anschrieen, sie sollten sich fortmachen und wir mit dem Rösli nochmals zurück gingen um neue Milch zu holen. Wir fühlten uns gut, weil wir ihr geholfen haben .
Erst recht viel später aber haben wir gelernt, dass unser Auslachen, wenn auch verdeckt, dem Rösli genauso wenig gefallen hätte wie der Angriff der Buben.
Aber mit den Jahren werden die meisten reifer - leider nicht alle.

Ich habe bei uns im Geschäft zig Jahre immer am Weihnachtsessen eine Schnitzelbank zum Besten gegeben, zusammen gestellt aus Missgeschicken der Migros-Verkäufer oder von Kunden. Oder ich habe für private Menschen (Geburtstag, Hochzeit oder so gedichtet)
Dazu bekam ich immer Rückmeldungen vom Personal oder Informanten, wenn wieder was Lustiges passiert war. Aber sobald es um etwas ging, wo ein Mensch nichts dafür konnte, habe ich gesagt: "nein, darüber schreibe ich nicht!" Es hat eine feine Grenze zwischen dem, was noch in den Rahmen passt und dem,was halt nicht mehr geht.
Viele Komiker ziehen ihre Pointen aus dem Beobachten von Menschen und ihren Missgeschicken - in manchem erkennt man sich dann sogar wieder. Aber diese feine Grenze, wo es nicht mehr lustig ist, sondern zu Respektlosigkeit ausufert, wo es nur noch verletztend wird für betroffene Menschen - diese feine Grenze nehmen leider nicht alle wahr.

Ich bin leider zu schlecht in Englisch, sonst würde ich den Collin Brothers mal etwas zum Nachdenken senden...

Liebe Grüsse sendet Euch

Bea

Re: Witze auf Kosten von Menschen mit Behinderung- findet Ihr das okay? wann ist etwas witzig?

Verfasst: 5. Juli 2019, 20:01
von PapiPaddy
Ich kann mir gut vorstellen, dass es ihm möglicherweise gar nicht bewusst war. Natürlich ist es nicht so ganz okay. Aber man kann auch drüber hinwegsehen. Es muss nicht absichtlich gewesen sein.

Re: Witze auf Kosten von Menschen mit Behinderung- findet Ihr das okay? wann ist etwas witzig?

Verfasst: 8. Mai 2021, 21:38
von PapiPaddy
Also die sache ist definitv klar für mich: Keine Witze auf Kosten von Irgendjemand. Egal ob Mit oder ohne Behinderung, Haarfarbe, Rasse etc. ...Sowas finde ich einfach nicht in Ordnung.